Rückfahrkarte statt Selbstbestimmung
Schon unmittelbar nach Kriegsende wurde Südtirol und insbesondere Bozen von Flüchtlingen überschwemmt. Die Rückoptanten durften allerdings erst Jahre später wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Die Unterschrift, die Karl Gruber und Alcide Degasperi am 5. September 1946 unter den nach ihnen benannten Vertrag setzten, war der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer weit reichenden Autonomie. Heute als „Magna Charta“ gerühmt, war das Abkommen 1946 vor allem eines: Eine Rückfahrkarte in die Heimat bzw. das definitive Recht auf einen Verbleib in der Heimat für die Deutschlandoptanten.
Im Pariser Vertrag wird der deutschsprachigen Minderheit in Italien „volle Gleichberechtigung mit den italienischsprachigen Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen zum Schutze des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen Bevölkerungsteiles“ zugesichert. Weitere Kernpunkte betrafen die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache, die gerechtere Verteilung der Stellen in öffentlichen Ämtern zwischen den Sprachgruppen und vor allem die inhaltliche Ausgestaltung der Autonomie.
Optanten: Ungewisses Schicksal
1946 war der Krieg zwar schon
über ein Jahr lang zu Ende, dennoch
waren die Altlasten der totalitären
Regime noch überall spürbar.
Das vordringlichste Problem
der Südtiroler war die Lösung
der Staatsbürgerschaftsfrage.
Bei der so genannten Option
von 1939 hatten sich 86 Prozent
der Südtiroler für die
deutsche Staatsbürgerschaft
entschieden. Die Staatszugehörigkeit
der während
des Krieges abgewanderten
Optanten war eindeutig
– sie waren Deutsche.
Jene der übrigen, die nicht abgewandert
waren – der Mehrheit also – war hingegen
vollkommen unklar. Während beispielsweise
die deutschsprachige Schule von der
italienischen Regierung schon im Oktober
1945 per Dekret eingeführt wurde, war das
Schicksal der Optanten völlig ungewiss.
Die Südtiroler Volkspartei (SVP) hatte sich
mit ihrer Forderung, die Umsiedlungsverträge
allesamt für null und nichtig zu erklären,
nicht durchsetzen können. Im Gegenteil, die
italienische Regierung hatte kurzzeitig sogar
die Möglichkeit der Abschiebung sämtlicher
Südtiroler in den Raum gestellt, die seinerzeit
für die deutsche Staatsbürgerschaft
gestimmt hatten. Mit dem von Karl Gruber
und Alcide Degasperi unterzeichneten
Vertrag war diese existenzgefährdende Drohung
vom Tisch.
Grundsatzentscheidung in Paris
Die endgültige Klärung der Staatsbürgerschaftsfrage
lag allerdings noch in weiter
Ferne. Diese war aber unbedingt notwendig,
wollten alle Südtiroler – und nicht nur
die ehemaligen Dableiber – ihre politischen
Rechte wahrnehmen. So drängte die SVP vehement
auf die Umsetzung dieses Punktes
des Pariser Vertrages. Die vereinbarte Einjahresfrist
verstrich aber ohne Ergebnis und
erst ein Verhandlungsmarathon zwischen einer
italienischen und einer österreichischen
Delegation im Herbst 1947 in Rom brachte
den Durchbruch. Nachdem die SVP dem
ersten Autonomiestatut zugestimmt hatte,
verabschiedete der italienische Ministerrat
am 2. Februar 1948 das sogenannte Optantendekret.
Nun war Eile geboten, denn für den April
des Jahres waren die ersten Parlamentswahlen
angesetzt. In einer breit
angelegten Werbekampagne
wurden die Südtiroler Deutschlandoptanten
dazu aufgefordert,
möglichst schnell die Option von
1939 zu widerrufen, um an den
Wahlen teilnehmen zu können.
Tatsächlich erhielten die meisten
noch rechtzeitig den Staatsbürgerschaftsnachweis.
Die Vergabe der
Staatsbürgerschaft an abgewanderte
Südtiroler ging jedoch nicht so schnell und reibungslos vor sich. Italien beschuldigte
die österreichische Regierung, auf die
Umsiedler Druck zur Rückoption ausgeübt
zu haben. Wieder waren langwierige zwischenstaatliche
Verhandlungen notwendig,
um das Problem zu Beginn der 1950er Jahre
aus der Welt zu schaffen. Nun erhielten auch
die Umsiedler in großer Zahl die italienische
Staatsbürgerschaft verliehen, Österreich
musste sich aber seinerseits verpflichten,
eine bestimmte Zahl Südtiroler einzubürgern.
Etwa 4000 ehemaligen Deutschlandoptanten,
von denen sich an die 700 in Südtirol
befanden, verweigerten die italienischen
Behörden die Staatsbürgerschaft. Dabei
handelte es sich um Personen, die ein Naheverhältnis
zum Nationalsozialismus gepflegt
und hohe Positionen innegehabt hatten.
Wer diese Form der versteckten Entnazifizierung
hinnehmen musste, konnte jedoch
zu einem späteren Zeitpunkt auf herkömmlichem
Weg um die italienische Staatsbürgerschaft
ansuchen, eine Möglichkeit, die
auch viele nutzten.
Rückkehr nach Südtirol
Erst der italienische Pass schuf für die
Umsiedler die Voraussetzung zu einer Rückkehr
nach Südtirol. Die Mehrheit der einstmals
rund 75.000 Abgewanderten beabsichtigte
nach Kriegsende, in ihre alte Heimat
rückzusiedeln. Die Grenzen waren aber gesperrt
und wurden streng kontrolliert. Viele
wollten trotzdem nicht auf die Regelung von
oben warten, sondern machten sich auf eigene
Faust auf den Heimweg. Nicht wenige
Personen fanden auf dem Weg über die grüne
Grenze den Tod, indem sie etwa erfroren
oder abstürzten. Trotzdem hielten diese illegalen
Rücksiedlungen auch nach der Einigung
in Paris an.
Zu Beginn des Sommers 1949 trafen die
ersten Rücksiedler auf legalem Weg in Südtirol
ein. Die Südtirolerverbände in Österreich
und Deutschland organisierten geschlossene
Transporte, die Wiener Regierung gewährte
eine geringe finanzielle Unterstützung der
Rückwanderer. In Südtirol fehlte es aber vor
allem an Unterkünften, sodass zahlreiche
Rückkehrer vorläufig in Lagern – z. T. ehemaligen
Kasernen – untergebracht werden
mussten. Erst als sich die Finanzlage in der
Provinz allmählich besserte wurde neuer
Wohnraum erschlossen bzw. der Bau von
ganzen Siedlungen vorangetrieben. Die
größte Zahl von Wohnungen wurde in den
Bozner Stadtteilen Rentsch und Haslach errichtet,
insgesamt fast 200. Freilich kam die
Wohnbauoffensive viel zu spät.
Ein zweites drängendes Problem für die
Rückkehrer war der Mangel an Arbeitsplätzen.
Häufig wiesen die Rückkehrer eine
geringe berufliche Qualifikation auf und
taten sich daher auf dem knappen Arbeitsmarkt
besonders schwer. Bereits in den
1950er Jahren setzte die Arbeitsemigration
nach Süddeutschland, Österreich oder die
Schweiz ein.
In Bozen wurde das Amt für Rücksiedlungshilfe
an Optanten errichtet, das allerdings
über so geringe finanzielle Mittel
verfügte, dass es seiner Aufgabe kaum nachkommen
konnte. So setzte es auf die private
Unterstützung und rief dazu auf, in den
Gemeinden sogenannte Rücksiedlungsausschüsse
zu gründen. Nicht einmal die Hälfte
der Gemeinden kam aber der Aufforderung
nach, was Ausdruck der mangelnden Hilfsbereitschaft
und Solidarität vieler Südtiroler
Dagebliebener war. Die Gründe hierfür lagen
einerseits in der allgemein schlechten wirtschaftlichen
Lage, zum anderen aber auch in
der sowohl bewussten als auch unbewussten
Verdrängung der Optionszeit. Das Trauma
der Spaltung und Entsolidarisierung, der
inneren Zerrissenheit und bei so manchem
wohl auch des eigenen Versagens wurde
durch die Rücksiedler wach gehalten, weswegen
ihnen häufig mit Ablehnung begegnet
wurde. So dienten sie als Sündenböcke für
die Fehler der Vergangenheit. Die Rückkehr
wurde ihnen bisweilen sogar zum Vorwurf
gemacht und das Wort vom „Heimatverrat“
fiel, vor allem die Spätheimkehrer erlebten
häufig eine kühle Aufnahme. Insgesamt siedelten
an die 20.000 bis 25.000 Umsiedler in
ihre alte Heimat Südtirol zurück.
Der Pariser Vertrag von 1946 schuf für die
meisten Deutschland-Optanten die Grundlage,
ihre Entscheidung von 1939 rückgängig
zu machen. Die tiefen seelischen Verletzungen,
die viele Südtiroler erlitten hatten,
konnte er jedoch nicht heilen.