Archivale des Monats

Südtirol-Kundgebung in Innsbruck

Sammlung Helene Oberleiter, Nr. 216

Ende Oktober 1918 war die Habsburgermonarchie bereits in Auflösung begriffen, die böhmischen Länder und die Slowakei etwa hatten als Tschechoslowakische Republik ihre Unabhängigkeit ausgerufen. In Tirol konstituierte sich am 1. November der Tiroler Nationalrat, der sich als Organ der neuen Staates Deutschösterreich verstand. Spätestens als das Königreich Italien kurz nach dem Ende der Kriegshandlungen das Gebiet südlich des Brenners für sich reklamierte, zeitweise sogar Innsbruck besetzte und jegliche Kommunikation zwischen Nord- und Südtirol unterband, war klar, dass die Lage komplizierter war als zunächst gedacht. Während sich Vorarlberg endgültig von Tirol abtrennte und die Regierung Deutschösterreichs in Wien einen Anschluss an das Deutsche Reich erwog, konnte man sich in Tirol durchaus vorstellen, ein selbständiges Land Tirol zu gründen und die Zugehörigkeit zu Deutschösterreich nur als Übergangslösung anzusehen. Die Besetzung des südlichen Landesteils wurde in Innsbruck als Rechtsbruch abgelehnt, widersprach sie doch augenscheinlich Punkt 9 der vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson im Jänner 1918 programmatisch formulierten Richtlinien für einen Frieden (A re-adjustment of the frontiers of Italy should be effected along clearly recognizable lines of nationality). Dementsprechend wurden vom Tiroler Nationalrat immer wieder Erklärungen zur Einheit Tirols von Kufstein bis Salurn sowie Protestnoten an die alliierten Verhandler in Saint-Germain abgefasst. Im Frühjahr 1919 wurden in Wien, Innsbruck und auch in Lienz Kundgebungen für Deutschsüdtirol abgehalten, die zumal in Tirol großen Zuspruch fanden. Am 16. März 1919, einem kühlen und regnerischen Sonntag, strömte vormittags eine große Menschenmenge am Innsbrucker Rennweg auf dem Platz zwischen Hofburg und Stadttheater (heute: Landestheater) zusammen, um gegen die Zerreißung Tirols zu demonstrieren. Verschiedene Politiker sprachen zur Menge und forderten die Erhaltung der Einheit Deutschtirols, so etwa Dr. Eduard Erler, die Landeshauptmannstellvertreter Baron Sternbach, Dr. Pusch und Dr. Gruener, sowie Vizebürgermeister Rapoldi. Auch Bruder Willram, der aus Bruneck stammende und in Innsbruck wirkende Dichter, Prediger und Volksredner Anton Müller, hielt eine Rede gegen die Teilung des Landes. Anschließend wurde von den Mitgliedern der Landesregierung eine Entschließung verlesen, in der für die Deutschen und Ladiner in den von Italien besetzten Gebieten das Selbstbestimmungsrecht eingefordert wurde. Ab dem Frühjahr 1919 gab es in allen größeren Orten Tirols Massenkundgebungen, um gegen die Teilung zu demonstrieren, doch zeigten sie keine Wirkung. Die junge Republik Österreich hatte auf der Friedenskonferenz von Saint-Germain nicht genügend Gewicht, um sich gegen Italien, das zu den Siegermächten zählte und auf die Einhaltung des Londoner Vertrages vom 26. April 1915 pochte, durchzusetzen. Mit 10. Oktober 1920 wurde die Annexion Südtirols an das Königreich Italien offiziell vollzogen, die Südtiroler Abgeordneten schieden endgültig aus dem Tiroler Landtag in Innsbruck aus. Doch die Proteste Nordtirols endeten damit nicht: Jedes Jahr am 10. Oktober wurden Gedenksitzungen im Landtag, Kundgebungen, Trauerfeierlichkeiten und Trauergottesdienste anlässlich der Teilung Tirols abgehalten.

ep

PT

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